Leseprobe
Liebe Kinder,
ich möchte euch eine Geschichte erzählen. Niemand kann sich daran erinnern, wie alt die Geschichte wirklich ist. Sie wurde immer weiter erzählt. Großeltern erzählten sie ihren Kindern und Enkeln. Wenn die Enkel älter wurden, erzählten sie die Geschichte ihren Enkeln. Manches wurde vergessen und anderes dazu erfunden. Ich möchte sie euch erzählen, wie sie mir ein guter Freund erzählt hat.
Die Geschichte handelt von einem Einzelgänger, der es schwer hatte, Freunde zu finden. Doch als er seine Heimat verlässt, trifft er viele andere Tiere, die er noch nie gesehen hat. Unter ihnen findet er einen Gleichgesinnten. Mit ihm entsteht eine Freundschaft, die so innig ist, dass man sich heute noch davon berichtet. Alles begann in Ägypten, einem weit entfernten Land:
Vor langer, langer Zeit lebten einmal zwei verfeindete Familien an dem Fluss Nil. Die Familie der Nilse und die Familie der Pferde. Warum die beiden sich bis aufs Haar nicht leiden konnten, wusste niemand so genau. Der Grund dafür war noch viel älter als die Geschichte selbst. Zu jener Zeit verliebten sich eine wunderschöne Pferdedame und ein stattlicher Nils ineinander. Die beiden kümmerten sich wenig um die Feindschaft ihrer beiden Familien. Miteinander waren sie sehr glücklich. Nach einiger Zeit erfüllte sich auch ihr innigster Wunsch. Sie bekamen ein Kind. Das erste Nilpferd, wie wir es heute kennen. Sie nannten es Nilpferdson.
Nilpferdsons Eltern waren sehr liebevoll. Sie kümmerten sich um ihn und waren stets für ihn da. Mit den anderen Kindern konnte er aber nie wirklich spielen. Für die eitlen Pferde war er zu klein und zu dick. Er konnte nicht so schön springen und nicht so schnell galoppieren wie sie. Für die Nilse wiederum war er zu dünn und schmächtig. In ihren Spielen ging es um Stärke und Kraft. Doch Nilpferdson war dafür einfach zu schwach.
„Mama, Papa, warum bin ich so anders als die anderen?“, fragte Nilpferdson eines Tages seine Eltern. „Niemand will mit mir spielen!“ Papa Nils und Mama Pferd schauten sich an. Sie hatten immer gewusst, dass Nilpferdson diese Frage irgendwann stellen würde. Die Antwort hatten sie sich viele Male überlegt. Doch jetzt wussten sie trotzdem nicht genau, wie sie es ihm erklären sollten: „Es stimmt. Du wirst nie so stark werden wie ein Nils und auch nie so schnell rennen können wie ein Pferd.“ Nilpferdson senkte traurig den Kopf. „Aber vergiss nicht, du kannst jetzt schon vieles, was andere nicht können. Du kannst viel schneller und länger schwimmen als ein Nils. Du bist mir schon fast davon geschwommen, als du noch ganz klein warst“, gab Papa Nils ehrlich zu. „Und dein Vater scheut sich auch heute noch davor, weiter von zu Hause wegzuschwimmen als unbedingt notwendig. Nilse sind nun mal sehr vorsichtig“, neckte seine Mutter. „Genau, Nilse sind zwar stark, aber nicht sehr abenteuerlustig“, fiel ihr sein Papa ins Wort.